Wozu eine Diagnose? Was ist eigentlich normal?

Wenn sie Angehörige haben, die autistisch sind oder ADHS haben, oder wenn sie selbst neurodivers sind, dann werden sie ganz sicher schon einmal eine der folgenden Aussagen gehört haben.

„Was ist schon normal?“

„Heute hat ja jeder irgendwas.

„Früher gab es das ja alles nicht“

Schon ganz früh, ganz zu Beginn unserer Reise habe ich wahrgenommen, dass es in der Gesellschaft eine allgemeine Annahme gibt, dass die neurodiversen Beeinträchtigungen inflationär angestiegen sein müssen. Diese Aussagen treffen nicht nur Fremde im Internet, sondern auch Angehörige und Freund*innen. Gerade in Bezug zur Diagnose der Kinder werde ich oft ungläubig angesehen.

„Bist Du sicher? Also ich glaube das nicht. Bekommt ja heute jeder irgendeine Diagnose. Was ist schon normal?“

Ich weiß nicht genau, ob das wirklich ein Hinterfragen ist, oder ob diese Menschen mich damit beruhigen wollen, dass ja irgendwie jeder was hat, wir also nicht traurig sein müssen mit unserem Autismus bzw. ADHS, oder ob das einfach nur eine nachgeplapperte Aussage ohne wirklichen Inhalt ist. Eventuell ist es sogar total ernst gemeint und die Menschen zweifeln wirklich die Diagnose an. Man sieht aktuell sehr gut, dass es zu reichen scheint, drei Youtube-Videos zu schauen, um zum Naturwissenschaftler zu werden. Vermutlich reichen auch die Aussagen von irgendwelchen Menschen im Internet, um Diagnostiker zu sein. Nun, abgesehen davon, dass sich heute die Diagnosemöglichkeiten wirklich verbessert haben- gab es das alles früher wirklich nicht? Haben wir in unserer Kindheit niemals jemanden kennengelernt, der anders war, als der Rest?

Ich selbst erinnere mich beispielsweise an einen Jungen in der Schule, der als Kind immer irgendwie anders war. Er war nicht sehr beliebt, hatte wenige Freunde, kam aber im Unterricht gut zurecht, aber er war halt irgendwie anders. Die Mimik des Jungen war wie eingefroren, und man wusste nie, was er gerade denkt. Das machte es total schwer, Kontakt zu ihm aufzunehmen.

Ich erinnere mich an viele Teenager, die mit Drogen experimentierten, eine Handvoll kam davon nie wieder los. Die wurden dann auch kriminell wurden und nahmen kleinere Einbrüche und Sachbeschädigungen vor.

In unserem Dorf gab es außerdem einen Jungen, der war ganz schwer beeinträchtigt. Er wurde morgens ganz früh mit dem Bus abgeholt, und abends zurück nach Hause gebracht. Er sprach nicht, und wir hatten alle irgendwie Angst vor ihm. Es gab ihn also, aber er wurde versteckt. Er wurde von der Gesellschaft ferngehalten.

Da war auch dieses Mädchen, was furchtbar vorlaut war, und sowieso immer das letzte Wort hatte. Sie hatte ständig Ärger mit den Lehrern, diskutierte über alles Mögliche, ließ sich von ihrer Meinung selten abbringen. Sie traf oft verrückte Entscheidungen, und brachte sich selbst dadurch häufig in Gefahr. Wenn jemandem was Unrechtes passierte, setzte sie sich ein, konnte aber, bei den falschen Vorbildern, auch zu denen gehören, die nicht besonders nett waren.

Ich bin mir sicher, dass sie diese Menschen auch kennen. Einige davon würden heute vielleicht eine Diagnose aus dem neurodiversen Spektrum erhalten, so wie meine Kinder und ich. ADHS sowie Autismus gab es schon immer. Menschen, die tief im autistischen Spektrum waren, wurden aber früher von der Gesellschaft ferngehalten und in Einrichtungen untergebracht, und die sogenannten high functioning Autist*innen waren die Nerds und Streber. Und viele Kinder und Jugendliche mit ADHS gerieten auf die schiefe Bahn, weil sie ihre Impulse so schlecht unter Kontrolle hatten.

Man könnte nun sagen, dass die aber dennoch irgendwie im Leben zurechtgekommen sind. Am Ende war ja alles gut. Wozu also eine Diagnose? Warum braucht man diesen Stempel? Eine Diagnose verändert am Kind überhaupt nichts. Das Kind ist noch immer dasselbe, ob mit oder ohne Diagnose. Das stimmt. Eine Diagnose verändert nicht den Menschen, der sie bekommt. Aber sie verändert die Wahrnehmung des Umfeldes dieses Menschen und sichert der Person selbst zu, dass sie keine Schuld daran trägt, so zu sein, wie sie ist. Und damit gewinnen wir ganz viel.

Wenn man irgendwann im Leben feststellt, dass die meisten anderen Menschen so überhaupt nicht ticken, wie man selbst, dann ist der erste Impuls, die Schuld bei sich selbst zu suchen. Man fühlt sich schlecht, weil man davon ausgeht, dass es an der fehlenden Kraft, an der fehlenden Fähigkeit, einfach nur normal zu sein, liegen muss. Man kann mit niemandem darüber reden, weil die allerwenigsten verstehen, wie es ist, wenn sich im Kopf aus einem einzigen Impuls tausende Gedankenketten entwickeln. Alle anderen können abschalten, warum kann man es selbst nicht? Das muss eine Schwäche sein. In dem Moment, in dem man eine Diagnose in der Hand hält, kann man anfangen, seine Vergangenheit aufzuarbeiten und seine Zukunft vorzubereiten. In dem Moment, wo man weiß, dass hirnorganische Unterschiede vorhanden sind, ist man darüber nicht mehr traurig, missverstanden zu sein. Man versteht selbst, warum andere anders ticken und man kann sich selbst und seine Vergangenheit viel besser verstehen. Jeder hat das Recht, zu erfahren, warum er oder sie sich anders fühlt.

Wenn ein Kind eine Diagnose erhält, ist das für die meisten Eltern eine Erleichterung. Viele Eltern mussten oft jahrelang von Arzt zu Arzt laufen, um bestätigt zu bekommen, was sie längst wussten. Bis dato müssen sich auch Eltern häufig vorwerfen lassen, dass sie am Zustand des Kindes selbst die Schuld tragen, immerhin ist das eine Sache der Erziehung, des Umgangs, der Ernährung, Impfung- suchen sie sich was aus.

Bevor es eine offizielle Facharztdiagnose gibt, und leider häufig auch danach, werden Eltern als Verursacher der Probleme des Kindes betrachtet. Sie werden ungefragt beraten, Menschen mischen sich in ihre Leben ein und hinter dem Rücken der Mütter wird getuschelt, dass das Problem „hausgemacht“ ist. Dafür ist eine Diagnostik wichtig.

Für Hilfen. Für Akzeptanz. Für das Verstehen. Für den Seelenfrieden.

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