Das Thema Modediagnose – again.

Ich bin sauer. Weil ich es einfach nicht mehr hören oder lesen kann. Modediagnose. Immer wieder taucht dieses Unwort in meiner Timeline oder in den Gruppen auf, egal ob es um ADHS oder Autismus geht. Ich habe eine solche Abneigung gegen dieses Wort, und ich kann es kaum mehr aushalten, wenn mir dieses Wort über den Weg läuft.

Klar, Autismus und ADHS sind modern. Ein Trend. Ich meine, wer will nicht gerne eine Reizfilterschwäche haben, so mit allem Drum und Dran? Wer möchte nicht gerne einen Pflegegrad für sein Kind? Wer hat nicht Lust, sich ständig mit Ämtern um Hilfen zu streiten? Klar ist es super, wenn das Kind im Grundschulalter schon Medikamente einnehmen muss, um den Alltag irgendwie zu bewältigen. Es ist modern, sich um Schulbegleitungen zu streiten, es ist modern, seine Kinder gemobbt zu wissen, wir Eltern haben auch total Bock darauf, ständig von allen öffentlichen Seiten in Frage gestellt zu werden. Und ein Schwerbehindertenausweis ist ja das neue „Schwer-in-Ordnung“. Alles halb so schlimm. Ein Trend eben. Ist das eigentlich Euer Ernst?

Es tut mir leid, wenn mir der Geduldsfaden reißt. Aber ich bin es wirklich leid. Menschen haben ein Recht darauf, ernst genommen zu werden. Es mag sein, dass es Eltern gibt, die ihre Kinder gerne zu einem hochbegabten Nerd stilisieren möchten, aber es ist einfach ein Irrglaube, dass neurotypische Kinder von irgendeinem Facharzt einfach so zum Autisten oder zum ADHSler erklärt werden, wenn es nicht auf sie zutrifft. Fachärztliche Diagnostiken sind umfangreich und viele andere Dinge werden zunächst ausgeschlossen, bevor ASS oder ADHS in Erwägung gezogen wird. Auch müssen Familien mehrere Termine in Anspruch nehmen, um überhaupt eine zuverlässige Diagnose erhalten zu können. Das ist die Realität. Für mich ist das Wort „Modediagnose“ inzwischen ähnlich schwer beladen wie die Begriffe der radikalen „Corona-Leugner“. Wenn diese sich mit Sophie Scholl oder Anne Frank vergleichen, wenn von „Diktatur“ gesprochen wird, wo gleichzeitig demonstriert werden darf, dann ist die Wahrnehmung erheblich gestört, oder man will einfach nur dagegen sein, um einen Moment lang Ruhm zu schnuppern. Ebenso ist es bei dem Wort „Modediagnose“. Ein Zustand, der für viele Menschen mit einer enormen Belastung einhergeht, wird als Trend bezeichnet. Ein Zustand, der für Menschen automatisch Diskriminierung beinhaltet, Ausgrenzung und fehlende Teilhabe, wird als modern bezeichnet.

Ich frage mich immer, wie Menschen sich sowas vorstellen. Man geht zum Arzt und der kuckt das Kind an, erklärt es zum Autisten oder ADHSler, und das war´s?

Bei uns war ein EEG das erste, was gemacht werden musste. Mein damals 4-jähriges Kind musste in der Kinderklinik alleine, ohne mich, mit Sensoren auf dem Kopf in einem Raum stillliegen, um eine Stunde lang ein EEG über sich ergehen zu lassen. Mit Kontaktgel in den Haaren. Das Elterninterview umfasste mehrere Stunden. Eine Spielbeobachtung durch eine fremde Person, einige Wochen später, wieder ohne uns, musste mein Kind auch aushalten. Wir konnten es uns aber später ansehen, denn es wurde gefilmt. Begutachtungen, Gespräche, Termine, fremde Umgebungen, fremde Menschen. Das macht Spaß. Nicht.

Bitte, liebe Leser: Wenn Euch irgendwo das Thema Neurodivergenz über den Weg läuft, dann unterstellt nicht Eltern und Betroffenen, dass sie einem Trend folgen. Denn es ist kein Trend. Es ist vielmehr so, dass Menschen mit einer autistischen Wahrnehmung oder einem ADHS heute endlich professionell geholfen werden kann. Sie werden endlich erkannt, auch wenn sie sogenannte hochfunktionale Autist:innen sind. Sie haben endlich Erklärungen für ihre Wahrnehmung, die so anders ist, als die der meisten anderen. Autismus gab es schon immer. ADHS gab es schon immer. Die Diagnosemöglichkeiten sind einfach besser, als vor 20 Jahren. Neurodivergenz ist kein Trend. Es ist eine Art, zu sein.

Hinterlasse einen Kommentar